mel25 hat geschrieben:
Die Evangelisten hatten überwiegend Quellen, die deckungsgleich waren und haben -je nach Intention- etwas ergänzt bzw. weggelassen (eigene Quellen benutzt). Würde man die Evangelien nebeneinanderlegen und die Passagen vergleichen, kann man schnell erkennen, wer von wem abgeschrieben hat
Hallo Mel,
das stimmt nur bedingt.
Denn dann würdest du herausbekommen haben, dass Markus von Lukas und Matthäus, Matthäus von Lukas und Markus und Lukas von Markus und Matthäus abgeschrieben hat....
Eine logische Erklärung, die mit der altkirchlichen (im Sinne von Spätantiken, noch vor der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion) Geschichtsschreibung vereinbar wäre, wäre folgende: Markus hat zuerst als Mitarbeiter des Petrus in griechischer Sprache einen Entwurf eines Evangeliums geschrieben, der aber nicht die völlige Billigung des Petrus fand. Parallel dazu hat Matthäus als Jünger und Augen- und Ohrenzeuge während seiner Wanderschaft mit Jesus Aussagen von Jesus in aramäischer Sprache aufgeschrieben (das wäre die berühmte "Logienquelle").
Auf einem Apostelkonkress, der noch im Neuen Testament in der Apostelgeschichte erwähnt wird (ich glaube, 48 n.Chr.) trafen sie dann alle zusammen.
Markus ergänzte sein Evanglium mit Teilen des aramäischen Materials von Matthäus; Matthäus übernahm die "literarische Form" des Evangeliums von Markus und verwendete Teile seines aramäischen Materials; Lukas übernahm die "literarische Form" des Evangeliums, ergänzte mit Teilen des aramäischen Materials des Matthäus und mit dem, was er durch Nachforschung und Augenzeugenbefragung herausfand.
Die Urform des Markus-Evangeliums und die aramäische Sammlung des Matthäus wurden nun nicht mehr benötigt, und das heisst: nicht mehr abgeschrieben in einer Zeit, in der eine (zunächst:) Schriftrolle bzw. (später) ein Kodex eine große Kostbarkeit war, und gerieten in Vergessenheit.
mel25 hat geschrieben:
Im Mittelalter wird dann wohl die Kirche angefangen haben, einiges in der Bibel zu ändern oder hervorzuheben.
[...] Auch wurden einige Evangelien aus dem Kanon rausgenommen (z.B. Thomasevangelium).
Nein, das stimmt so auch nicht. Bzw., Veränderungen an den Urtexten sind bekannt, weil es viele Papyrus- und Pergament-Bruchstücke aus der Spätantike gibt, die man jeweils miteinander vergleichen kann.
Hinzugefügt wurden anscheinend:
- der "lange Schluss" des Markus-Evangeliums, wohl im 2.Jhdt.; Markus endete ursprünglich mit Kapitel 16, Vers 8;
- die Geschichte mit der Ehebrecherin, deren Steinigung ausfiel (zuerst bei Martin Luther)
- der letzte Satz des Vaterunsers (zuerst bei Martin Luther);
- einzelne Sätze, die nie den Kern der Geschichte berühren.
Das Thomas-Evangelium ist nicht aus dem Kanon entfernt worden, sondern es ist nie aufgenommen worden. Das heisst nicht, dass es in keiner einzigen christlichen Gemeinde der Frühzeit benutzt wurde, denn diese waren zunächst ein loser Verband; das spricht übrigens auch stark gegen eine starke Manipulation der Texte durch eine "Zentralgewalt". Auf´s Internet übertragen: die Texte lagen nicht auf einem "zentralen Server", sondern auf dutzenden "lokaler Rechner". Eine Zentralgewalt konnte vielleicht durchsetzen, dass bestimmte "Dateien" gelöscht werden (Thomas-Evangelium bspw.), aber sicherlich nicht, dass dutzende "Computer-Nutzer" ihre Schriftrollen mit weiter zu benutzenden Texten zerstören, vorher aber in einer genau bestimmten veränderten Form abschreiben, ohne dass das durch archäologische Funde rekonstruierbar wäre. Sooo gering ist die heutige Einsicht in die damalige Zeit auch nicht.
Allerdings finde ich auch, dass die Texte im Kontext gesehen werden müssen. Wann man sich z.B. mal vorstellt, dass alle Evangelien davon berichten, dass der auferstandene Jesus zuerst von Frauen gesehen wurde (deren Zeugnis hatte sowohl bei den Juden als auch den Griechen und Römern einen geringen Stellenwert, vielleicht vergleichbar mit einigen islamischen Ländern heute), und das ein Sklave nach römischen Recht eine Sache war und kein Mensch (!) und laut den römisch-griechisch-heidnischen Kulten nicht einmal eine menschliche Seele hatte - schon ein Unterschied zum frühen Christentum.
Herzliche Grüße!
LarsU